Freitag, 24. April 2015

Live Musik. Von Rarität zum Trend

In der arabischen Kultur hat die Musik eine sehr große Bedeutung und eine lange und feste Tradition. Die Besonderheit der arabischen Musik für „westliche“ Ohren ist, einerseits, der typische Klang, der seine Charakteristik darin entfaltet, im Gegensatz zu dem Halbtonschritt, (kleinstmöglichen Intervall der europäischen Musik) noch viel kleinere Tonintervalle zu ermöglichen. Das macht die orientalische Musik so filigran, spannend, manchmal auch märchenhaft. Anderseits, die Kompositionen, die einen Spielraum für Interpretation und Improvisation geben, und schließlich der Gesang, dem, im Vergleich zu der europäischen Musik, größere Bedeutung zugemessen wird. Bauchtanz ist ohne Live Musik in Ägypten kaum denkbar und überall in der Welt geht der Trend der Festivals und orientalischen Tanzveranstaltungen hin zu "mit Live Musik". Wenn es um Zeichen der Qualität einer Tänzerin geht, so war es schon immer zu Oum Kolthum tanzen zu können und entwickelt sich heute in Richtung zu Oum Kolthum mit Live Musik. Auch in Deutschland nimmt dieses Thema Formen an und eine interessante Strömung beginnt.
Eine kurze persönliche Anekdote - oder wie für mich alles begann...
Zu 360° Orient 2014 hatte Verahzad einen grandiosen Einfall - Live Musik in die Veranstaltung zu integrieren. Puh... etwas panisch aber neugierig und euphorisch haben wir die Nägel mit Köpfen gemacht und einen dritten Abend organisiert, als Versuch, ob Osnabrücker Publikum dazu überhaupt bereit war. An dem besagten Abend trafen die Musiker an und ignorierten mich leicht oder mein Alter als Veranstalterin wartend auf Verahzad. Als alle sich gegenüber standen und sich leichtes "no plan" Feeling ausbreitete, kam in einem sehr guten Deutsch (die Überraschung basierte auf etwas schlechte Vorerfahrung zu diesem Thema): "aufbauen, proben, spielen, abbauen".

"Für einen Araber ist es aber eine sehr europäische Einstellung" formten sich meine Gedanken zu schnell in Wörter.

Wie ich erst später herausfand, hatte Diab Nasser eine sehr stolze Vita, von musikalischer Früherziehung bis zu der jahrelangen Ausbildung bei Magdy Manga. Seine Projekte reichen von Studioaufnahmen, Management von Bands (VIP, Shabab und Mazzikatea Europe), Gigs bis zum aktuellen Supportact auf dem Konzert von Tamer Hosny... Jede Tänzerin hätte schon längst damit geprallt. Diab bleibt sachlich und tut seinen Job... und zwar ziemlich gut.

Aus dem frechen Spruch entstand Bekanntschaft und ein neues, starkes Projekt für 360° Orient 2015, mit einer neuen Konstellation und besonderem Anspruch.
Kennt ihr das Phänomen, wenn man das Auto einer bestimmten Marke kauft, sieht man es plötzlich an jeder Ecke. So war es bei mir auch, als ich angefangen habe mich mit der Live Musik auseinander zu setzten, schien die ganze Szene damit in Bewegung gekommen zu sein.
Bei SHRQ propagierte Nabila Sabah in ihrem Vortrag: "unterstützt die Live Musik", die großen und kleinen Veranstaltungen kündigten Live Musik an und schließlich gab es
neulich auf facebook einen ziemlich langen Tread zu diesem Thema. Daraus festigten sich Fragen, die sich schon länger in der Entwicklungsphase befanden und nach einem Telefonat entstand folgendes Interview. Über die Musik, Diab und seine musikalische Sicht auf die Dinge...




Gab es in den letzten Jahren Entwicklung in der Musik? Ich kann nur vom Tanzen sagen, wie es sich verändert hat. Hat sich die Musik auch verändert? Wenn ja, dann in wie fern?
Ja, hat sie... Sie ist minimalistischer geworden. Elektronischer, moderner, zeitgemäßer. Man nimmt Elemente aus anderen Musikformen, Klangfarben aus anderen Stilen und verbindet sie um den Sound zu kreieren. Sie hat sich in der Abmischung, Akzentuierungen, Melodien, Harmonien und Rhythmik verändert aber die Kompositionen und Arrangements sind wesentlich reduzierter geworden.. (lacht) jetzt bräuchte ich mein Keyboard um das musikalisch darzustellen.

Das Interesse mit Live Musik zu tanzen ist da. Wie kann die Entwicklung aus deiner Sicht weiter gefördert werden? Die Entwicklung kann nur dann gefördert werden, wenn sich die Tänzerinnen auf die musikalische Materie wirklich einlassen. Meiner Meinung nach fehlt es noch sehr am fachlichen Verständnis, was dazu führt, dass Tänzerinnen von manchen Musikern von oben herab behandelt werden (und umgekehrt) und die Veranstalter mit nicht-Profis arbeiten, von diesen aber Höchstleistungen erwarten. Missverständnisse und ggf. auch Enttäuschungen der Veranstalter könnten vermieden werden, wenn eine ernsthafte Selektion der Musiker stattfinden würde. Vielleicht sollten sich die Tänzerinnen, bevor sie sich in die Arbeit mit Live Musik stürzen, fragen, kann ich mit einem Musiker kommunizieren? Die Wünsche äußern, ohne auf die Hand- und Geräuschsprache zurück zu greifen. Die Kommunikation auf Augenhöhe basiert nicht auf Förderungen oder Machtkämpfe, sondern auf Basiswissen.

Wie lerne ich die schlechte Musik von sehr guter Musik zu unterscheiden, wenn alleine das LIVE schon so viel Begeisterung und Euphorie auslöst, dass es schon ausreicht? Wenn du fachliche Kompetenz hast, ein Stück zu analysieren, heraus zu hören aus welchen Bestandteilen es zusammen gesetzt ist und ob derjenige, der das interpretiert in der Lage ist, das umzusetzen und wie. Der Weg von der Beurteilung nach zu Empfinden ist der Weg zur fachlichen Beurteilung. 

Vor kurzem habe ich in Russland folgende Situation erlebt - Live-Musik-Marathon:
Die Musiker haben 3 Std. mit Tänzerinnen geprobt und nach 3 Std. Pause weitere 5-6 Std (!!!) gespielt. Ganz ehrlich, ich selbst fand es unmenschlich. Die Musiker wussten aber worauf sie sich einlassen, und waren trotzdem dementsprechend unmenschlich zu den Tänzerinnen. Während die ersten schon getanzt haben, wurden die Instrumente mit der Anlage abgestimmt, gestoppt, gestimmt, von vorne angefangen... Was ist deine Meinung dazu? 
Ich halte nicht viel davon. Man kann nach einer gewissen Anzahl der Stunden nicht mehr die Leistung und Qualität aufbringen, die man selbst, Tänzerinnen und die Zuschauer verdienen.
Musiker, die im Orientalischen Tanzbereich in Ägypten arbeiten, zählen nicht gerade zu den gut bezahlten. Sie bedienen eine Nische, die gefragt ist, aber in den Musikerkreisen nicht angesehen ist, vor allem im Inland des Landes nicht. Wenn die Musiker für die Bauchtänzerinnen arbeiten, haben sie weniger oder gar keine Möglichkeit im Orchester zu wirken, der einen Star bedient. Demnach sehen sie in solchen Auslandsmöglichkeiten die Chance das schnelle Geld zu verdienen, was sie sonst vielleicht in einem Monat bekommen würden.

Aber zurück zum Thema Qualität. Der Musiker geht, wie jeder andere Künstler, mit einer gewissen Energie, Konzentration, Seele, einem Atem auf die Bühne und nach einer gewissen Zeit bringt man keinen Glanz mehr. Ein gesundes Programm beinhaltet 2-3 Stunden. Das, was die ägyptischen Bands machen, würde ich nicht mitmachen. Profis müssen zu Profis finden. Um die Qualität des Orientalischen Tanzes und nicht seine Quantität zu fördern, muss auf einer Vertrauens- und Respektebene gearbeitet werden. Aber ich denke, die Tanzszene betrifft es genauso, wie die Musikszene...  

In Europa ist es für eine Tänzerin unmöglich eine eigene Band zu haben. Man hat ja selbst genug Schwierigkeiten, sich durch die Auftritte zu ernähren. Daher ist die Band eigentlich als eigenständiger Künstler zu betrachten, der für mehrere, unterschiedliche Tänzerinnen mit unterschiedlichen Ansprüchen zur Verfügung steht und spielt. Ist das interessanter? Oder auch schwieriger? Hm.. Habe ich eine feste Konstellation, die für eine Person spielt, hat es natürlich Vorteile, weil Sachen auch unvorbereitet ausprobiert werden können, man entwickelt eine Form der Kommunikation auf der Bühne. Verständnis. Du lernst die Grenzen der Person kennen, geht’s drüber oder nicht. Die Steuerung geht in verschiedene Richtungen, die Melodie gibt vor und der Trommler reagiert. Je besser man sich kennt, desto besser funktioniert das Ganze und es entsteht immer wieder ein neues Format. 
Wenn man die Tänzerin nicht kennt, ist es eine Art Nervenkitzel. Im Raum steht automatisch die Frage, was kann ich mir musikalisch erlauben, wo ist die Grenze der Tänzerin oder des Musikers etc.. Das ist, wie Menschenkenntnis auf der künstlerischen Ebene. Interessant ist Beides. Immer!  

Es scheint so, als ob die Trommler in der Bauchtanzszene die besseren Chancen haben, einen Job zu bekommen? Ist das so? Ist unsere Szene eher auf One-Man-Show ausgerichtet? Eine One-Man-Show kann man durchaus machen, weil der Trommler ein wichtiger Part der Musikfamilie ist. Es ist bloß die Frage des Anspruchs und der finanziellen Mittel. Die Nummer verliert an Wertigkeit, wenn der Trommler zu der CD mit trommelt und erst dann seine 5-Minuten-Show spielt.
Um die One-Man-Show zu definieren. Nur zwei Musiker haben die Möglichkeit für die Tänzerin alleine zu spielen, der Trommler oder der Keyboarder. Warum der Keyboarder? Wegen der Möglichkeit mit hochmoderner Technik zu arbeiten. Es kann natürlich nicht die Band ersetzen, aber alles spielen, was auch die Band kann, von Geige bis zu den Trommeln. Die Musik lebt anders und ist nicht authentisch, aber es ist möglich. Die meisten Tänzerinnen greifen aber nicht drauf zurück oder verabscheuen sogar den Gedanken, gleichzeitig, was sehr paradox ist, bevorzugen sie aber gerade die Tanzstücke von CD, die ausschliesslich vom Keyboard produziert worden sind. Für mich hat es nur eine Erklärung, dass die Tänzerinnen nicht in der Lage sind, die Klangfarben auseinander zu halten, um das zu erkennen.  

Du hast eine starke Vita und eine Menge Projekte am Laufen. Warum sehen wir dich so selten im Bereich „Selbstpromotion“ in den sozialen Netzwerken und Medien? Ich kann meine Existenz leider nicht von der Orientalischen Musik abhängig machen, sondern durch Studio-Arbeit, Event- und Gala-Bereich. Die Wurzeln liegen darin und mein Herz geht darin auf, deswegen bleibe ich dem treu. Aber ich bin Realist, ich werde damit nie meine Existenz sichern können. Nicht solange die Szene so funktioniert, wie sie zur Zeit funktioniert - Verfügbarkeit über alles. 
Die Leute, die Qualität genauso lieben und genau das Gleiche suchen, werden mich und die Band schon finden.  

Warum Mazzikatea Europe? Und warum die Idee mit dem Netzwerk? Mazzi bedeutet Musiker (im Plural). Das Netzwerk soll für Profimusiker stehen, die in diesem Pool zusammen arbeiten und die Fähigkeit haben Orientalische Tänzerinnen zu begleiten. Es ist keine feste Band. Die Konstellation der Musiker wechselt nach Art der Veranstaltung, Budget etc. Aber bei jeder Zusammensetzung bietet es einen gewissen Qualitätssiegel für die Veranstalter, aber auch Musiker. Europe steht für die Möglichkeit international zu arbeiten. Alle Musiker kommen aus Europa und haben damit mehr logistische Freiheit als die Bands aus Ägypten. Wir wollen das Niveau der Live Musik in Deutschland anheben und einige schlechte Erfahrungen der Tänzerinnen relativieren, die Entwicklung ankurbeln und die Live Musik nicht nur beliebt, sondern möglich machen, ohne dabei auf die Qualität zu verzichten.


Wer ist in der Regel der Leader einer Band? Das Keyboard ist das dominanteste Instrument unter den Instrumenten, da es in der Lage ist, ein anderes zu ersetzen und zu harmonisieren.  

Wie bereitet ihr euch auf einen Gig vor? Wie bereitet sich eine Tänzerin vor? Wir bekommen die Stücke zugesandt, sichten die Musik. Manchmal sind die Zusammenschnitte zusammenhangslos. Dann wird Optimierungsarbeit geleistet oder Vorschläge gemacht, was und warum musikalisch nicht geht usw. 
Jedes Mitglied der Band probt erst alleine und dann zusammen, und schließlich mit Tänzerinnen in Form einer Generalprobe.  

Aus persönlicher Erfahrung weiß ich, dass das Höchste für eine Tänzerin ist, zu Oum Kolthum zu tanzen. Ist es für dich/ euch genauso eine Herausforderung? Es gibt einige Schlüsselfiguren in der Orientalischen Musik, wo Oum Kolthum die prägendste Rolle spielt, keine Frage. Es ist eher eine Ehre als Herausforderung, diese Stücke zu interpretieren, mit denen man groß geworden ist. Denn als Musiker musst du in der Lage sein, Oum Kolthum zu interpretieren (Longas zu spielen). Das ist wie das Grundgesetz der Musiker. In der Jazz Musik gibt es den „Real Book“, das ist wie die Bibel. Die muss man können. Jazz ist nicht nur Impro. So verhält es sich auch mit Oum Kolthum, aber auch mit Abdel Wahab, Warda – die Klassiker, die man spielen können muss.  

Die Gage, die die Bands z.B. für 5 Musiker verlangen, ist von 1.500 € bis 3.000 € (inkl. Anfahrt) und höher. Wie erklärt man sich diesen Unterschied? Ganz klar, Qualität hat seinen Preis. Man kann nicht von einem Budget für einen Polo einen Daimler kaufen und sich dann ärgern, wenn es den Ansprüchen nicht gerecht wird. Das eine ist eine ausreichende Transportklasse und das andere die Luxusklasse.

In der Tänzerwelt ist es mittlerweile Gand und Gebe, dass sich die Tänzerinnen an den Veranstalter anbieten. Nun habe ich die gleiche Erfahrung auch mit einer Band erlebt. Was hältst du davon? Wo siehst du Schwierigkeiten? Ich sehe keine Schwierigkeit. Es ist eine Frage der freien Marktwirtschaft. In einem anderen Berufszweig gibt es auch Bewerbungen. Aber auch Ausschreibungen! Ich bin eher der Typ für eine Ausschreibung. Ich warte darauf, bis meine Dienste gefragt sind und versuche in dem Punkt Überzeugungsarbeit zu leisten.  

Die Veranstalter können es kaum, die Tänzerinnen bezahlen eine Band schon gar nicht. Warum? Die Budgets und die Prioritäten werden, aus meiner Sicht, anders gesetzt. Die Tänzerinnen holen sich eher ein Kostüm oder eine weitere Fortbildungsreise als eine Band. Wie kann man das kippen?
Wer schon mal zu Live Band getanzt hat, weiß, dass das Gefühl ein anderes ist. Es entsteht eine andere Dynamik, Energie, Kraft, Kommunikation und, wenn die Tänzerin in der Lage ist, das nicht nur selbst zu genießen, sondern auch an das Publikum zu transportieren, ein unbeschreibliches Erlebnis für alle. 

Letztes Jahr hast Du und Mazzikatea Europe Randa Kamel beeindruckt. Gerade wart ihr die Preshow beim Konzert von Tamer Hosny, im Juni spielt ihr für Nour und Yasser Alswery (360° Orient/ Osnabrück), im September (Spirit of Cairo/ Berlin) für Tito und Dandash. Das sind alles sehr laute Namen und es scheint so als arbeitet ihr nach dem Prinzip "klotzen, nicht kleckern". Was ist das Ziel, Deins und des Netzwerks? Unser Ziel ist, ganz klar, eine höhere Positionierung der Musiker auf dem europäischen Markt. Und der Anspruch einen gewissen Level musikalisch zu bedienen, sprich auch die Künstler mit Starstatus. Sowie das Beispiel am vergangenen Wochenende beweist. Die Band von Tamer Hosny hatte keinen Trommler dabei. Ohne Bedenken wurde Mohamed Zaki (einer der Musiker des Mazzikatea Netzwerks) eingesetzt und die ganze Show mit begleitet. So soll es sein. Es soll Vertrauen auf Professionalität und Qualität herrschen. Unser Ziel ist - hochqualitative Live Musik, Punkt.
  
Mehr über Diab und seine Arbeit...
Facebook: https://www.facebook.com/diab.nasser.9?fref=ts
Mazzikatea Europe: https://www.facebook.com/diab.nasser.3?fref=ts
VIP BAND: https://www.youtube.com/watch?t=113&v=UWaGpPjAM-A

Bevorstehende Veranstaltungen mit Mazzikatea Europe: 
www.360-orient.de
www.spiritofcairo.com

Workshop:
Orientalische Musik - http://www.360-orient.de/teacher#Diab

Livemusik Tanzausbildung in Deutschland: 
http://www.nabila-sabha.de/rakslive.html





Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen