Dienstag, 13. Januar 2015

Moscow-Diary #1 oder was haben 295 PS mit Tanz zu tun?

...nach acht Monaten bin ich wieder hier. In einer Stadt, auf die ich jedes Mal mit gemischten Gefühlen treffe, die mein Energie- und Inspiration-Level anhebt und jedes Mal irgendetwas raus holt. Moskau...

Normalerweise, wenn ich einer Stadt begegne, ist das erste was ich mache, laufen. Einfach so, durch die Straßen, Gassen, Plätze. Ohne Plan. Ohne Stadtplan. Eindrücke sammeln. Auf sich einwirken lassen. Selbstgespräche führen. I love it!


Bei -19°C war das dieses Mal doch kein Vergnügen und es bot sich die Möglichkeit einer Spazierfahrt an. Mit 295 PS waren 160 km fast ohne Stau durch Moskau während der Feiertage eine seltene Gelegenheit. Hinter der Fensterscheibe wechselten sich die Plattenbauten mit klassizistischen Kunstwerken, Denkmälern und modernen Wolkenkratzern ab. Bestimmt nicht nach Regeln fahrende Autos, ewig eilende Menschen, dreckiger Schnee, Matsch... Keine Charakteristiken zum Verlieben und doch reizt sie mich. Diese Stadt voller Widersprüche. So wie die unnötigen 295 PS dieses Autos, was ich gerade versuche lieb zu gewinnen. Denn in Moskau gibt es die längsten Staus der Welt. Sogar an Feiertagen fährst du teilweise 40 km/h... Also, warum das Ganze? Um schneller anzufahren, erklärt mir mein Fahrer. Ich nicke nur... ja, ja. Und diese weiße Farbe? Die Autos werden mehrmals in der Woche gewaschen. Nicht damit sie sauber sind, sondern damit sich der Dreck nicht "rein frisst"... Also, ein total unpraktisches weißes Auto mit 295 PS...

Während hinter dem Fenster die architektonische Landschaft sich abwechselt, wechseln sich im Radio die Lieder ab. Ein wolliges, kribbeliges Gefühl überkommt mich, denn das eine ist, mit dem Kopf zu verstehen und das andere mit dem Herzen. Ja, das habe ich vermisst... Nach einer Weile ertappe ich mich beim Gedanken, dass die Lieder, die ich im Radio höre, vieles gemeinsam mit den Liedern haben, zu denen ich gerne tanze. Die orientalischen Lieder treffen mich jedes Mal auf´s Neue, auch wenn ich es nicht will..


Automatisch fange ich an, beides zu vergleichen. Der Zugang zu den russischen Liedern ist mir offen, die Sprache, die Akzentuierung der Wörter oder der Silben, Atempausen, die versteckten Spielchen, Sarkasmus oder die Anspielungen, die nur die Russen verstehen können. All das, was mir hier so vertraut ist, ist in den arabischen Liedern fremd, auch wenn ich sie so liebe. Öfters habe ich mir beim Übersetzten der Lieder von einem arabischen Koch anhören müssen "das ist das und das aber es heißt nicht das, sondern hm... so wie... hm..." bis er es irgendwann für den Tanz einer Europäerin für unnötig hielt und aufgab. Was eigentlich verständlich ist. Ich habe schon öfters versucht, meinen deutschen Freundinnen unseren Aberglauben zu erklären. Es funktioniert nicht. Und ich denke, mit der Essenz des Orientalischen Tanzes verhält es sich genau so.
Wir übersetzen die Lieder für uns, geben dann aber auch bewusst oder unbewusst diese Übersetzung durch übertriebene und öfters europäische Gestik und Mimik an den Zuschauer weiter. Das ist meist auch europäisch und versteht die Lieder genau so wenig wie wir, und wird nur von der Gesamtwirkung beeindruckt. Die Orientalen würden in uns auch mit der gelernten orientalischen Gestik dennoch einen "Touristen" im Tanz sehen. Also warum das Ganze? Warum geben wir uns nicht mit der Interpretation der Musik, der Melodie, der Stimmlage, der Intonation, die genau das Gefühl unterstützen, zufrieden? 
Die Gedanken schweifen zum Workshop heute morgen. Thema - Klassisches Lied. Schöne Choreo a la Tito mit verschiedenen Levels der Energie vom Meister selbst ausgeführt. EINE EINZIGE Gestik setzte er in die Choreo ein. Shimmy, mit Hand auf´s Herz zusammen sinken... Während er jedoch tanzte, kamen ein Paar weitere hinzu. DOCH nicht wie wir uns das als Schüler wünschten. Er setze die Gestik ein oder eher sie kam aus ihm raus, je nach dem, was er gerade FÜHLTE. War der Schmerz seines Herzens, Ergebnis einer Verletzung und damit Beschuldigung als Aussage, änderte sich seine gesamte Tanzenergie und er zeigte auf die imaginäre Person. War die Aussage nur der Schmerz und damit er selbst als verletze Person, rückte er sich selbst als Opfer ins Vordergrund und änderte dazu die Gestik. "Man kann nicht zwei Mal in den gleichen Fluss steigen" (griech. Philosoph Heraklit), so kann man auch ein Lied nicht mit dem gleichen Gefühl zwei Mal tanzen. Und damit ist es auch absurd die Gestik zu choreographieren oder zu planen. Um es so authentisch einsetzen zu können wie Tito, sind wir in der "falschen" Kultur geboren worden. Auch wenn man die Sprache kennt, Lieder und Übersetzung auswendig lernt, schafft man nicht aus dem Bauch heraus es in DEM richtigen Moment authentisch (doppelgemoppelt - ich weiß) einzusetzen. Und die Schlüsselwörter. Gut sie zu kennen, aber manchmal hat man das Gefühl, dass die Tänzerin sich von einem Punk bis zum anderen zu bewegen scheint, wie von einer Haltestelle zu der nächsten, ohne auf die Verkehrsmitteln zu achten. Ist vielleicht das "Zeigen-wollen", dass man´s versteht, eine Übertreibung? Genau wie das weiße Auto mit 295 PS, was gerade wieder 40 km/h fährt...
Doch um die Widersprüchlichkeit des Ganzen zu betonen, kann man auch die Sicht auf das Auto wechseln? Man kann es auch so sehen - beschäftigen wir uns doch mit der Sprache, den Übersetzungen, der Gestik und all dem, was uns wichtig erscheint (also die 295 PS). Doch beim Auftritt fährt man dann nur 40 km/h, auch wenn´s schwer fällt. Konzentriert auf das, was allen Menschen zugänglich ist - auf die Musik. Interpretiert ihre Höhen und Tiefen der Melodie, die Gefühle und die Stolpersteine. Und wenn es einen durchdringt, durchströmt, durcheinander bringt und vor allem den Kopf ausschaltet, um dann nach außen zu strömen, wie ein Vulkan an Emotionen und all der Gestik und Mimik die damit zusammen hängt raus holt... in dem Moment bekommt alles, was man für unnötig oder noch zu früh oder noch nicht reif genug gehalten hat einen Sinn und die Geduld wird belohnt... Die nächste Frage, die aufkommt ist dann, hat man diese Geduld? 
Ich werde aus meinen Gedanken, durch lautes "Huppen..." von allen Seiten, herausgerissen und durch die (zu) hohe Geschwindigkeit in den Sitz gedrückt. Mein Fahrer lacht, "siehst du, dafür sind die 295 PS da"...



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